Ich erinnere mich noch sehr genau – als es losging mit dem „Arabischen Frühling“, da waren auch wir Journalisten und die „Neue-Welt-so-halb-oder-eben-eher-noch-gar-nicht-Checker“ in den Führungsebenen der öffentlich-rechtlichen Sender oder der Presse geradezu besoffen von der Dynamik, dem subversiven, basisdemokratischen, revolutionären, unaufhaltsamen, vom die Diktatur hinwegfegenden Potential der über Twitter und vor allem über Facebook organisierten Protestbewegungen – von ein paar Spaßbremsen und ewigen Nörglern wie mir einmal abgesehen.
Und auch nicht nur Protest in autokratischen Regimen, auch Politikbetrieb übers Netz in etablierten Demokratien erschien plötzlich logisch und attraktiv und machbar – ablesbar am Erfolg der Piratenpartei in diversen europäischen Ländern. Mittlerweile ist Ernüchterung eingekehrt. Dass Netzbewegungen kein Selbstläufer sind, ist klar; dass sie nicht per se etwas an den grundlegenden kulturellen und politischen Strukturen in einem Land oder einer Region ändern, auch. Die These von Zeynep Tufekci, den zahlreichen erst boomenden und dann verpuffenden Netz-Protestbewegungen mangle es an (politischem…) Handwerkszeug, so wie den auf ihre Sherpas angewiesenen Bergsteigern am Mount Everest – die klingt plausibel. Mit fehlendem Rückgrat – so wie das die Online-Kollegen bei Deutschlandfunk Nova titeln – ist dabei keineswegs ein moralisches, sondern ein anatomisches Problem gemeint…
Allzu konkrete Handlungsvorschläge oder gar Patentrezepte hat die Soziologin in ihrem Buch allerdings auch nicht zu bieten – dafür sind auch die politischen Rahmenbedingungen der „Bewegungen“ von Zapatisten über schwarze Bürgerrechtler in den USA über Occupy in geordneten westlichen Staaten über Protestler in Tunesien, Ägypten oder der Türkei zu unterschiedlich. Zeynep Tufekci bezieht ganz ausdrücklich Position gegenüber der kritischen Interpretation eines Evgeny Morozov und seiner „Slacktivism“-Theorie. Aber dass repressive Regime hinzugelernt haben und nicht nur wieder erfolgreich zensieren und überwachen, sondern auch selbst die Klaviatur der Social Media bedienen – notfalls mit „Fake News“, Bots und Trollfarmen, das registriert und schildert die Soziologin in ihrem Buch auch.
Zeynep Tufekci hat große Sympathien für das zapatistische Motto „Wir gehen voran, während wir Fragen stellen.“ Ich selbst und wahrscheinlich der überwiegende Teil der Journalisten in öffentlich-rechtlichen oder einfach Mainstream-Medien teilen diese Weltsicht vermutlich so irgendwie. Aber das ist natürlich eine Wahrnehmungs-Brille („Lügenpresse…“), die wir da aufhaben. Ein großer Teil der Weltbevölkerung ist überhaupt nicht links und anti-autoritär; sieht gar nicht aufklärerische Ideen, LGBTQ-Interessen und Verbesserungen bei den Menschenrechten als vordringlich zu lösende Probleme. 🙂 Möglicherweise nicht zu Unrecht.
Blicken wir nach Deutschland, nach Frankreich, Holland, in die USA; nach Russland oder in die Türkei: Viele Bürger dort, viele wahlberechtigte Bürger haben zu einem sehr signifikanten Anteil – in den USA und in der Türkei ist das Verhältnis ja etwa 50-50 – gar keinen Veränderungsimpuls. Oder vielleicht eher einen in die Gegenrichtung, zu mehr Autorität, Nation, Religion, Ressentiment. Das Mobilisierungspotential von Social Media hat auch bei Pegida funktioniert – darauf gibt es kein linkes, antiautoritäres Exklusiv-Abo…
http://gty.im/459973451
Im Grunde spiegelt sich dieses Dilemma sogar in den Schilderungen von Zeynep Tufekci – sie beschreibt einigermaßen enthusiastisch die Ereignisse während des Putschversuchs in der Türkei im letzten Jahr – wie sie selbst die neuen Entwicklungen an ihre Follower twitterte, wie sie die eigentlich geplante Abreise aus dem Land spontan verschob, wie dann Staatspräsident Erdogan über einen Handy-Stream in CNN Turk zugeschaltet wurde und zum Widerstand gegen den Putsch aufrufen konnte, wie sich die Bevölkerung in den Social Media gegen den Putschversuch organisierte (während wiederum der Putschversuch auch über Social Media organisiert wurde…) und auf die Straße ging. Das war das Eintreten der Bevölkerung für eine demokratisch legitim gewählte Regierung; keine Frage. Es wäre allerdings interessant zu hören, was Zeynep Tufekci jetzt über die Situation in der Türkei denkt.
Deutschlandfunk Nova · Politik: Demokratie via Netz verpufft
Deutschlandfunk Nova – Grünstreifen vom 18.05.2017 (Moderation: Tina Kiessling)