Mal ganz ehrlich: Cut and Paste – wer hat davon noch nicht profitiert? Das Internet lädt doch geradezu zum Plagiieren ein … Doch genauso unerbittlich ist das Netz, wenn es darum geht, Kopisten zu überführen.
Es ist der sprichwörtliche “Coup”; der Artikel in der “Süddeutschen Zeitung” vom Mittwoch, dem 16. Februar 2011: “Guttenberg soll bei Doktorarbeit abgeschrieben haben.” Bereits in der Nacht hat der Blogger Raphael Wimmer die Vorabmeldung der Nachrichtenagentur dpa gelesen, er googelt nach der Dissertation. Bei “libreka.de” wird er fündig und gibt dann direkt einmal ein paar Begriffe aus der Einleitung der Arbeit in die Suchmaschine ein – und landet sofort einen “Volltreffer”: Der gesamte Einstieg ist offensichtlich nahezu identisch mit einem Artikel der “FAZ” aus dem Jahr 1997. Nach einem kurzen Blogeintrag um 0.49 Uhr geht Wimmer erst einmal schlafen. Mittags um 13. 46 Uhr antwortet er einem seiner Leser, der inzwischen eine weitere abgekupferte Passage gefunden hat: “Vielleicht sollte man da einmal ein crowd-sourcing betreiben.”
Donnerstag, 17. Februar: Der Schwarm der Plagiats-Sucher im Netz hat sich organisiert – in Windeseile zeigt sich bei der “kollaborativen Dokumentation” der Fundstellen im “Guttenplag”-Wiki, welches Ausmaß die Angelegenheit hat: Ein Blick ins Internet genügt fortan, um die These von “kleineren Ungenauigkeiten” oder “vergessenen Fußnoten” ad absurdum zu führen.
Donnerstag, 24. Februar: 63.713 Doktorandinnen und Doktoranden unterzeichnen im Netz einen offenen Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel: Deren Bemerkung, zu Guttenberg sei schließlich nicht als “wissenschaftlicher Assistent” eingestellt, sei eine Verhöhnung der Wissenschaft in Deutschland.
Samstag, 26. Februar: Der Nachfolger von zu Guttenbergs Doktorvater an der Universität Bayreuth, der Staatsrechtler Oliver Lepsius, bezeichnet den Minister in einem Interview mit dem Bayerischen Rundfunk als “Betrüger”. Der Mitschnitt wird auf Youtube und anderen Videoplattformen verbreitet und weit über hunderttausendmal angeklickt. Drei Tage später tritt Karl-Theodor zu Guttenberg von allen politischen Ämtern zurück.
Eine selektive Chronologie: Natürlich hat nicht “das Netz” den Minister zu Fall gebracht, die “klassischen” Medien, darunter konservative Blätter wie die “FAZ” oder die “Welt” haben auch ihren Anteil – mit eigenen Recherchen, mit ebenso eindeutigen wie beharrlichen Kommentaren. Und doch: Was die Netz-Crowd bei “Guttenplag” innerhalb von zwei, drei Tagen zusammengetragen hat, dafür hätte früher eine Einzelperson oder auch ein Team von Journalisten Wochen oder Monate gebraucht – vorausgesetzt, es wäre überhaupt irgendwie finanziert worden.
Das Internet und die Guttenberg-Affäre – ein Modellfall für eine “urdemokratische” barrierefreie Mitgestaltung der realen Welt vom heimischen Rechner aus? Erstens: Eine Google-Suche ist noch lange keine genuin politische Willensäußerung. Zweitens: Die Mitmach- und Begeisterungsbereitschaft ist auch im Netz begrenzt. Große Zahlen (wie bei den Facebook-“Freunden” von Guttenberg …) heißen nicht viel; die Crowd ist flüchtig und keine verlässlich einzukalkulierende Größe.
Apropos verlässlich und kalkulierbar: Direkte Volksentscheide haben die Verfassungsväter der Bundesrepublik ja einst mit Blick auf die deutsche Geschichte weitgehend ausgeklammert – ob das Misstrauen gegenüber der “verführbaren” Masse berechtigt war oder ist, darüber kann man trefflich streiten. Manch einer befürchtet nun, dass in einer digitalen Demokratie die unreflektierte Stimmabgabe aus dem Impuls heraus sogar wahrscheinlicher würde: Einen Mausklick macht man halt deutlich einfacher, als sich erst einmal zum Wahllokal zu bemühen.
Wie dem auch sei: Abstimmen im Netz ist die eine Sache, das konstruktive Erarbeiten von politischen Ideen eine ganz andere, davon kann die als digitaler Bettvorleger gelandete Piratenpartei ein Liedlein singen. Und das Liquid-Democracy-Projekt bei der Enquete-Kommission “Internet und digitale Gesellschaft” backt gerade einmal die ersten ganz kleinen Brötchen. Aber warten wir einmal ab: Vor 20 Jahren wäre die Sache mit der Doktorarbeit wahrscheinlich im Sande verlaufen. Und voraussichtlich haben wir nicht erst in 20 Jahren neue Formen der politischen Willensbildung im Netz – wie die aussehen werden, das ist allerdings noch reichlich wolkig.
(Dieser Text erschien als “Netz.Blick” in der Zeitschrift “Digital”, Ausgabe Mai/Juni 2011.)