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“Geliefert wie bestellt” – der Fall Relotius

In unserer schönen neuen Welt der allseits erwarteten Perfektheit, des ständigen Abgleichs des eigenen Selbst, des eigenen Äußeren oder des eigenen Schaffens mit dem vermeintlich perfekten Selbst oder Äußeren oder Schaffen von anderen, des “Mitbewerbs” also im Leben oder im Beruf; in den Zeiten der ständigen Selbstvergewisserung anhand von “Likes”, Followern oder Abonnenten ist das Aufhübschen der Realität zum völlig normalen Verhalten geworden. Und irgendwie (wobei bei allen Beteiligten das Ausmaß der Einsicht gerne situationsabhängig schwankt…), irgendwie weiß ja jeder: Das ist nicht die Realität, das ist eigentlich gar nicht so glamourös. Das ist eigentlich gar nicht so schön. Das ist gar nicht so eindeutig. Das ist eigentlich gar nicht so spannend.

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Es gibt ja bei Instagram oder auf anderen Plattformen etwas, das man “Food Porn” nennt, und der Gedanke hinter dieser semantischen Schöpfung passt natürlich auch auf andere Diszipline; auch “Beauty Porn”, “Fashion Porn”, “(Extreme-) Sport Porn” oder “Travel Porn” (ich erhebe mal sofort Leistungsschutzanspruch auf all diese Neuschöpfungen…) sind also völlig normale, völlig gebräuchliche Realitäts-Aufhübschungen. Und, das jetzt mal meine These aus gegebenem Anlass, es gibt auch “Journalismus- oder Reportage-Porn”.

Claas Relotius’ Reportagen sind unglaublich detailliert ausrecherchiert und eindringlich geschildert und fast schon als Literatur zu bezeichnen. (Aus der Laudatio des Jurors Gero von Boehm bei der Verleihung des Reemtsma Liberty Award 2017)

Eben. Fast schon Literatur. Die Subjektivität ist ja eh eingepreist, ist ja eh konstituierendes Stilmittel bei der “Königsdisziplin” Reportage.

Die Reportage stellt ein spezielles Ereignis oder ein Geschehen so dar, wie es die Autorin/der Autor miterlebt hat und wahrnimmt, um es den Leserinnen und Lesern auch emotional nahezubringen. (Bayerischer Rundfunk: Journalistische Textsorten)

Und natürlich lernt man als junge(r), aufstrebende(r) Journalist(in) auf den entsprechenden Journalistenschulen, bei den Voluntariaten der Zeitungen und Sender, wie das handwerklich gemacht wird.

Generell gibt es keine Standardstruktur oder Musterlösungen für eine gute Reportage, doch lässt sie sich grob in drei Bereiche gliedern: Einstieg, Hauptteil und Ausstieg. Für den Einstieg eignen sich besondere Szenen. Sie sollten den Leser neugierig machen und möglichst Ort, Zeit und handelnde Personen einzuführen. (Journalist-werden.de: Schreibwerkstatt, Teil 3)

So zum Beispiel:

An einem Dienstagmorgen im Januar, vier Tage nachdem Donald Trump als Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt worden ist, steht neben dem Willkommensschild am Ortseingang noch ein zweites Schild, halb so hoch, aber kaum zu übersehen. Jemand muss es in der Dunkelheit aufgestellt haben. Auf diesem Schild, aus dickem Holz in den gefrorenen Boden getrieben, steht in großen, aufgemalten Buchstaben: “Mexicans Keep Out” – Mexikaner, bleibt weg. (Claas Relotius, “Wo sie sonntags für Trump beten“)

Super; nur, dass der Reporter sich das Schild ausgedacht (wieso gab es eigentlich kein Foto davon, und wieso hat die Spiegel-Doku-Abteilung danach eigentlich nicht gefragt oder nachgeforscht?) und noch so ein paar andere Sachen erfunden hat. In den Reportagen von Claas Relotius gibt es offenbar auch als immer wiederkehrendes Stilmittel Musik: Lieder, Songs, die die Protagonisten vielsagend oder rührend selbst anstimmen oder – natürlich, darunter geht’s nicht – in einer Endlosschleife hören. Anscheinend momentan ein regelrechter Fake-Marker bei seinen Stücken. Ansonsten natürlich: Handwerkszeug.

Wenn ich einen Satz sehe wie “draußen beginnen die Hunde zu bellen”, höre ich sofort auf zu lesen. (Ein hellsichtiger Kommentator im SPON-Forum)

Es gibt offenbar auch Leser/Hörer, die unsere journalistischen Handwerks-Stereotype durchschauen; wir Journalisten selbst tun dies natürlich auch – aber in der Rolle als abnehmende Redakteure fordern wir die paradoxerweise, und ohne übermäßige Anforderungen an deren Plausibilität oder Belegbarkeit zu stellen ein. Die Geschichte, das “Storytelling” muss halt natürlich “rund” sein, und anschaulich. Einstieg-Hauptteil-Austieg, der Bogen muss da sein. Oder notfalls zusammengedrechselt werden.

Er steigt mit ihr hinab in den Keller, der nach Schweiß stinkt, über eine Treppe mit 15 Stufen, so steht es da: 15 Stufen, weil Relotius gelernt hat, dass exakte Zahlen die Glaubwürdigkeit des Geschriebenen erhöhen. (SPIEGEL legt Betrugsfall im eigenen Haus offen – Eine Rekonstruktion in eigener Sache von Ullrich Fichtner)

Und, weil der/die abnehmende Redakteur(in) das geil findet und das natürlich genauso wie sein/ihr Autor, womöglich sogar auf der gleichen Journalistenschule gelernt hat; klar, die Zahl der Treppenstufen ist unerlässlich – obwohl eigentlich niemand, kein normaler Mensch in der normalen Situation in Syrien oder sonstwo auch nur im entferntesten auf die Idee kommen würde, die bescheuerten Treppenstufen mitzuzählen. Ist selbstverständlich auch fuckegal, ob das 15 oder 14 oder 16 sind. Bullshit; Reporter-Porn halt.

https://twitter.com/vonWurmbSeibel/status/1075630325198348288

Natürlich ist der Fall – leider – Wasser auf die Mühlen der Fake-News-Apologeten.

Damit die Szenen nicht beliebig wirken, ist es wichtig sich vor dem Schreiben eine These zu überlegen. Diese These ist das Ergebnis der vorherigen Recherche, also die Quintessenz aller Interviews und Beobachtungen, die man im Vorfeld geführt bzeziehungsweise gemacht hat. Anhand dieser These wählt man die Szenen für die Reportage aus. Passt eine Szene nicht zur These, sollte man sie weglassen. (Journalist-werden.de: Schreibwerkstatt, Teil 3 – für die Schreibfehler der Schreibwerkstatt kann ich übrigens nix 🙂  )

Oder eine passende hinzuerfinden 🙂 Ganz ohne Zweifel hat der Spiegel eine These, eine vorgefasste Agenda. Möglicherweise ist das gerechtfertigt, möglicherweise passt die Agenda auch zum angepeilten Zielpublikum; oder möglicherweise ist die Agenda und die Erwartungshaltung an die Autoren in Wirklichkeit aber auch kontraproduktiv und führt zum Mechanismus “geliefert wie bestellt”. “Sagen, was ist.” Nicht, sagen, wie wir gerne hätten, dass es sei. Das gilt natürlich auch für mich und meine Kolleg(inn)en beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk.

Die Erklärungen von Claas Relotius selbst, er habe da unter Erfolgsdruck gehandelt, die kann ich nicht so ganz nachvollziehen. Er hat halt in der “Königsklasse” mitspielen wollen und auch bei den entsprechenden gutdotierten Preisen, die systemimmanent “Porn-verdächtig” sind (ich möchte nicht wissen, was passiert, wenn man jetzt alle preisgekrönten Reportagen der letzten Jahre auf die wirklich minutiös nachprüfbaren Fakten bis zum “ihre zusammengepressten Knöchel werden weiß” nachprüft…). Die Verlockung und das Problem sind systemimmanent, und ich sehe es genauso wie die “Salonkolumnisten” – selbst die an sich lobenswerte Aufarbeitung des Falls beim Spiegel bedient sich wiederum der Stilmittel, die den Fall erst miterzeugt haben.

Und mal an Claas Relotius selbst gerichtet – ich kenne Sie nicht, aber laut allen Einschätzungen ihrer Kollegen sollen Sie ein äußerst angenehmer, bescheiden auftretender, sympathischer Zeitgenosse sein. Tun Sie sich nichts an, verzweifeln Sie nicht; auch wenn Ihre Karriere als Journalist mit der Angelegenheit höchstwahrscheinlich beendet sein sollte. Holen Sie sich Hilfe – und dann wechseln Sie; vielleicht ja zunächst unter Pseudonym, ins literarische Fach. Denn Sie schreiben ja einfach richtig gut, nur bislang im falschen Genre.

Ein Monat Faktenfinder bei der Tagesschau. Bitte unbedingt weitermachen.

Seit dem 3. April gibt es das “Faktenfinder”-Team bei der Tagesschau-Redaktion; Chefredakteur Kai Gniffke zieht einmal eine erste Bilanz. Und in der finden sich ja ein paar bemerkenswerte Sätze:

Nahezu jede Geschichte der Faktenfinder landet unter den Top Ten der am meisten aufgerufenen Inhalte auf tagesschau.de. Es erscheint fast zu banal, um wahr zu sein: Gib einem Redaktionsteam die Zeit und den Raum für gründliche Recherche, und du erntest verdammt guten Journalismus.

Ja. Stimmt.

Ist meine Rede seit wer-weiß-wie-viel-Jahren, aber als kleiner Unter-Indianer im öffentlich-rechtlichen Rundfunk ist meine Rede ja auch weitgehend völlig egal für die Entscheidungsträger in den Anstalten. Aber trotzdem (und trotz eventueller Zweifel an den Faktenfindern… – die Perspektive sollte da übrigens nicht nur 100%ig, sondern 300%ig neutral sein 🙂 ): Ja. Wir bekommen eine Menge Kohle über die Rundfunkgebühren den Rundfunkbeitrag, und das ist bei “den Menschen da draußen im Lande” gar nicht so unumstritten/akzeptiert/beliebt, als dass es uns in diesem Sektor arbeitenden Leute ruhig schlafen lassen könnte. Jeder Artikel über GEZ/Rundfunkgebühren/Rundfunkbeitrag bekommt fünfzig- bis hundertmal soviel Kommentare wie ein Artikel von ÖR-Sendern. Ok – auch die ÖR-Hasser sind nicht repräsentativ 🙂 …

Aber ganz klar: Unsere Aufgabe in den öffentlich-rechtlichen Sendern ist, Qualitätsjournalismus zu liefern. Das ist unsere Agenda und Kompetenz – ich kenne auch niemanden unter den Kolleginnen und Kollegen, der oder die das fahrlässig anders machen würde oder wollte. Das Gequatsche von Verschwörungstheoretikern oder irgendwie ideologisch Angehauchten, wir würden auf Befehl von Angela Merkel, der Weisen von Zion oder Fethullah Gülen irgendwelche Nachrichten oder Kommentare lancieren oder abändern, ist totaler Bullshit.

Was vielleicht kein Bullshit ist: Wieso hauen wir Millionen raus für Sportübertragungen (und Vermögenstransfers an ohnehin nicht finanziell unterbemittelte Akteure…)? Sind Einschaltquoten bzw. die (messbare, aber fragwürdig messbare…) Popularität das richtige Kriterium für unser Engagement? Nehmen wir mal die von Kai Gniffke erwähnten Zahlen: Vier Schichten pro Tag für die Faktenfinder – wenn die Kolleginnen und Kollegen einigermaßen gut bezahlt werden, macht das 400,- x 4 x 5 Tage x 52 Wochen im Jahr: 416.000 Euro. Je nach Beschäftigungsstatus plus Sozialabgaben.

Das sind – mit Verlaub – Peanuts. Ich frage mich, warum nicht jede ARD-Anstalt ein Recherche-Team (mindestens!!!) in der Größenordnung unterhält/finanziert – eben wohlgemerkt ohne den Druck, jeden Tag einen Beitrag “liefern” zu müssen. Wenn man die Aktivitäten ARD-weit koordinieren würde, wäre das natürlich auch noch einmal extra-hilfreich. Zwei- oder dreimal die gleiche Enthüllungs-Story oder den gleichen Faktencheck braucht natürlich niemand. Aber den fünfzigsten Bericht zu Bayern gegen Dortmund auch nicht.

Insofern mal – die Entscheidung steht jetzt schon fest sollte an sich schon jetzt feststehen:

Ende des (Wahl-) Jahres wollen wir bilanzieren, ob sich die Faktenfinder bewährt haben oder ob wir mit Kanonen auf Spatzen geschossen haben.

Die “Faktenfinder” haben sich schon jetzt bewährt – und das ist auch eigentlich die Begründung, warum es uns privilegiert honorierte ÖR-Journalistinnen und -Journalisten gibt oder geben sollte:  “gründliche Recherche” ohne Bullshit-Zeitdruck durch Popularitäts- oder Einschalt- /Klicksüchtige Entscheidungsträger.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Ein Unter-Indianer. 🙂

Freischwebender Bullshit: Facebook will Gedanken lesen

Die Gedanken sind frei. Sich Irgendwas ausdenken, oder mal irgendwie über die Zukunft nachdenken, das wird man doch wohl noch dürfen. Oder mal die Gedanken schweifen lassen. Ganz frei, völlig losgelöst von irgendwelchen Realitäten. Alles ist erlaubt bei einem Brainstorming. Auch totaler Bullshit.

Facebook will demnächst irgendwann mal Gedanken lesen, bzw. Gedanken als Input-Channel nutzen für – ja was denn eigentlich? Für ein tastaturloses Katzenbildposting, für ein Liken des gerade vertilgten Burgers oder ein prospektives Ändern des Beziehungsstatus (“im Moment bin ich gerade mit der langweiligen und bei Licht besehen doch nicht so attraktiven X – was besseres war aber gerade nicht im Angebot – liiert, denke aber, dass ich eigentlich lieber die scharfe Y als Freundin hätte…”  Oder zum Steuern von Autos??

“Würde Facebook das Projekt gelingen, könnte das Problem der Spracherkennung ausgeschaltet werden. Wenn ich dann denke, dass ich im Auto rechts abbiegen will, erkennt mein Navi das automatisch”, sagt Klaus Heblich von der SWR-Wissenschaftsredaktion.

“Solche Technologie existiert heute nicht. Wir werden sie erfinden müssen”, hat Facebook-Managerin Regina Dugan am Mittwoch auf der Facebook-Entwicklerkonferenz F8 gesagt. Stimmt. Der Warp-Antrieb existiert auch noch nicht, aber wenn sich 60 Leute beim milliardenschweren Werbe- und Selbstvergewisserungskonzern von Herrn Zuckerberg dransetzen, dann müsste das doch eigentlich auch zu schaffen sein. Dran arbeiten am neu erfinden kann man ja mal. Oder das planen, aber jetzt schon mal rausposaunen – in die dankbare Presselandschaft.

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Die greift solch futuristische Pläne ja gerne auf und diskutiert die dann auch ganz ernsthaft mit “Experten”. Wenn Facebook an sowas arbeitet, muss das ja irgendwie realistisch sein. Oder aber total spekulative Zukunftsvision, die man einfach mal als kommerzieller Akteur im Markt freischwebend daherpinseln und -schwafeln kann. Im Klartext: Bullshit, jedenfalls auf sehr lange Sicht hin. Schauen wir doch mal ganz kurz auf die Fakten: Die bisherigen Ansätze zum Abgreifen von irgendwelchen motorischen oder intellektuellen Absichten (Ja – Nein, Cursor nach rechts oder links…) sind von der Praxistauglichkeit (Elektroden im Gehirn…) oder der Geschwindigkeit äußerst bescheiden.

Natürlich ist es eine großartige Sache, wenn Leute mit Locked-In-Syndrom (oder mit anderen Behinderungen; das Paradebeispiel ist vielleicht Stephen Hawking…) einen (bislang sehr mühsamen…) Weg bekommen, sich zu artikulieren. Aber das ist auch schon das einzige relevante Szenario für die “Gedanken-Lese-Technologie”, jedenfalls für die nächsten 20, 30, 40 Jahre (mit Prognosen soll man ja vorsichtig sein, vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen…). Es gibt nicht den allergeringsten Anhaltspunkt, wie ein “Abgreifen” komplexerer Gedanken als “Ja-Nein”, “Cursor nach rechts, Cursor nach links” oder “vorgegebene Auswahlmöglichkeit auswählen” zuverlässig funktionieren soll.

Wie die Facebook-Evangelisten (oder die Presse oder die befragten Experten…) auf die Idee kommen, die herbeiphantasierte Technologie könne sinnvoll die (ja auch noch gar nicht zuverlässig und ansatzweise befriedigend umgesetzte…) Spracherkennung ablösen oder ersetzen, das ist mir völlig schleierhaft. Nehmen wir mal das bei Tagesschau.de erwähnte Szenario: “Ich denke jetzt mal, dass ich rechts abbiegen will. Ach nee, doch nicht, ich würde zwar eigentlich gerne, aber da ist ja ein Lastwage…”  Die Handlungsweisen, ethischen Aspekte und Haftungsfragen bei eventuell eingebundenen KI-Assistenz-Systemen sind auch noch völlig ungeklärt, um mal ein eventuelles Gegenargument gleich einzubeziehen.

Oder die anderen Beispiele:

So könnte der Gedanke an eine Tasse direkt mit dem entsprechenden Fremdwort in Spanisch oder Chinesisch umgesetzt werden, sagte die Facebook-Managerin. “Eines nicht so fernen Tages könnte es sein, dass ich auf Chinesisch denke und sie es sofort auf Spanisch fühlen.”

Hatte ich gerade gedacht – der hat nicht mehr alle Tassen im Schrank; oder mit dem würde ich gern eine Tasse Tee trinken? Natürlich “gehe es nicht darum, wahllos Gedanken zu lesen”. (z.B. um dann direkt Burger- oder Porno-Werbung einzublenden…) “Nur solche Gedanken, die an das Sprachzentrum weitergeleitet würden, seien gemeint.” Und wie soll das gehen, diese Differenzierung??? “War dieser Gedanke von dir gerade zur Weiterleitung an das Sprachzentrum gedacht? Denke bitte Ja oder Nein.” “Meintest Du gerade Porno oder Burger, denke bitte P oder B.” Bist Du sicher? Denke Ja oder Nein”. Ich setze mir zur Klärung dieser Feinheiten aber erst mal ein Elektroden-Mützchen auf. (Seid ihr wahnsinnig, ihr Vollhorste ???)

Fazit: Die Facebook-Ankündigung ist die größte Luftnummer, die ich in den vergangenen Jahrzehnten (ok, sagen wir mal seit Duke Nukem…) gelesen habe. Irgendwann wird so was natürlich mal kommen. Irgendwann werden wir den Gehirnerweiterungs-Chip implantiert haben. Irgendwann werden wir wirkliche von implantierten Erinnerungen nicht mehr unterscheiden können, irgendwann werden wir den Warp-Antrieb haben – oder denken, wir hätten ihn. Vielleicht steht da sogar dann “Facebook Virtual Reality” drauf. Momentan ist das aber alles totaler Bullshit. Oder halt eine sehr völlig freischwebende Vision. Da wäre ich ja der letzte, der das verbieten wollte. Man muss das nur auch Bullshit nennen dürfen.

(Nachklapp 27.04.2017:) Wired sieht Facebooks Visionen ähnlich kritisch wie ich.

Unseren täglichen Cyberwar gib uns heute

Rumgetöse im Netz wird zum Dauerbrenner

Früher brauchte man für eine ordentliche Verschwörung einen Umhang oder eine Kutte wie beim Ku-Klux-Klan oder zumindest eine Gesichtsmaske aus Stoff, Leder oder Pappmaschee – und die geheime Übereinkunft wurde dann stilvoll mit dem eigenen Blut besiegelt. Heute braucht man sich nur irgendwelche Open-Source-Software aus dem Netz runterzuladen und zu starten. Dann stattet einem mit etwas Glück sieben Monate später die vereinigte Anti-Terror-Kavallerie von FBI, CIA und NSA einen kleinen Überraschungsbesuch ab. Schwarz vermummte und bis an die Zähne bewaffnete Elitekämpfer stellen die Bude gründlich auf den Kopf, packen alles ein, was einen Prozessor und einen Internetzugang hat – und man selbst landet schnurstracks, Gegenwehr empfiehlt sich nicht, in einem Verlies. Wegen “mutwilliger Beschädigung eines gesicherten Computersystems” und wegen “Conspiracy” – wegen Verschwörung also.

Der “Cyberwar” ist eben in vollem Gang – bei Polizei, Geheimdiensten und Militär werden Task Forces und neue Kommandozentralen zu Verteidigungs- und Angriffszwecken aus dem Boden gestampft, mit Tausenden von Beschäftigten und mit Milliarden-Budgets. Wo plötzlich all die dafür benötigten Experten herkommen sollen, ist noch nicht so ganz klar, aber das macht ja nichts – schließlich erwägen Strategen ganz ernsthaft auch “konventionelle Vergeltungsschläge” nach gravierenden digitalen Attacken. Die martialische Rhetorik passt natürlich auch den Medien bestens ins Konzept – da wird dann im Zweifelsfall kein großer Unterschied gemacht: die Stuxnet-Attacke auf iranische Atomanlagen, eine für zwei Tage lahmgelegte Website oder die Veröffentlichung eines sieben Jahre alten Speiseplans aus einer NATO-Kantine: alles gefährliche Hacker-Angriffe, alles Cyberwar.

Die Dauer-Aufgeregtheit nervt. Aber andererseits: Die “Hacker” mit der digitalen Gesichtsmaske, Anonymous, LulzSec samt ihrer regionalen Ortsvereine, Splitter- oder Konkurrenzgruppen – die nerven auch. Vor allem die, die mit Sendungsbewusstsein daherkommen, mit aufgeplusterten Begründungen für eine schlichte DDoS-Attacke oder für das Ausnutzen einer uralten SQL-Lücke, mit spätpubertärem Geschwafel von Widerstand und Krieg gegen “das System”. Dabei sind ja, wenn nicht alles täuscht, politische Teilhabe und demokratische Veränderung zumindest in den “westlichen Staaten” durchaus noch möglich – aber dazu muss man halt den Allerwertesten auch einmal aus dem Hocker heben und Chipstüte und Pizza-Box liegen lassen. Notfalls geht es sogar vom Hocker aus, aber sowohl analoge als auch digitale Beteiligungsformen sind natürlich immer etwas mühsam und zumindest in den unteren Etagen weitgehend unglamourös.

Wer meint, mit einer DDoS-Aktion per “Low Orbit Ion Cannon” an einer legitimen “digitalen Demonstration” teilzunehmen, der täuscht sich: Bei einer analogen Kundgebung tritt man nämlich als Individuum persönlich und identifizierbar für oder gegen etwas ein, auch wenn man dabei für gewöhnlich kein Namensschildchen trägt. Aber ganz klar – so schlimm ist ein solcher Irrtum allerdings nun auch wieder nicht, als dass die vereinigte Anti-Terror-Kavallerie anrücken müsste; schwerste Kriminalität ist halt schon noch einmal etwas ganz anderes.

Immer schön auf dem Teppich bleiben, so lautet also die Devise für alle Beteiligten. Wobei ja übrigens nichts gegen einen richtig schönen, durchdachten Hack gesagt sein soll, wie die Aktion gegen die selbst großmäulige “Sicherheitsfirma” HBGary – und auch nicht gegen die Aufdeckung von Informationen über wirkliche Skandale oder Missstände. Aber wenn’s geht, alles immer mit etwas Augenmaß. Eines natürlich muss man dem ganzen Rumgehacke und Cybergekriege ja lassen: Es sichert Arbeitsplätze. Bei “Sicherheitsfirmen” und Behörden. Und hier bei uns, in der Presse.

(Dieser Text erschien als “Netz.Blick” in der Zeitschrift “Digital”, Ausgabe September/Oktober 2011.)

Die Crowd in der Cloud – von Guttenplag zur Liquid Democracy?

Mal ganz ehrlich: Cut and Paste – wer hat davon noch nicht profitiert? Das Internet lädt doch geradezu zum Plagiieren ein … Doch genauso unerbittlich ist das Netz, wenn es darum geht, Kopisten zu überführen.

Es ist der sprichwörtliche “Coup”; der Artikel in der “Süddeutschen Zeitung” vom Mittwoch, dem 16. Februar 2011: “Guttenberg soll bei Doktorarbeit abgeschrieben haben.” Bereits in der Nacht hat der Blogger Raphael Wimmer die Vorabmeldung der Nachrichtenagentur dpa gelesen, er googelt nach der Dissertation. Bei “libreka.de” wird er fündig und gibt dann direkt einmal ein paar Begriffe aus der Einleitung der Arbeit in die Suchmaschine ein – und landet sofort einen “Volltreffer”: Der gesamte Einstieg ist offensichtlich nahezu identisch mit einem Artikel der “FAZ” aus dem Jahr 1997. Nach einem kurzen Blogeintrag um 0.49 Uhr geht Wimmer erst einmal schlafen. Mittags um 13. 46 Uhr antwortet er einem seiner Leser, der inzwischen eine weitere abgekupferte Passage gefunden hat: “Vielleicht sollte man da einmal ein crowd-sourcing betreiben.”

Donnerstag, 17. Februar: Der Schwarm der Plagiats-Sucher im Netz hat sich organisiert – in Windeseile zeigt sich bei der “kollaborativen Dokumentation” der Fundstellen im “Guttenplag”-Wiki, welches Ausmaß die Angelegenheit hat: Ein Blick ins Internet genügt fortan, um die These von “kleineren Ungenauigkeiten” oder “vergessenen Fußnoten” ad absurdum zu führen.

Donnerstag, 24. Februar: 63.713 Doktorandinnen und Doktoranden unterzeichnen im Netz einen offenen Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel: Deren Bemerkung, zu Guttenberg sei schließlich nicht als “wissenschaftlicher Assistent” eingestellt, sei eine Verhöhnung der Wissenschaft in Deutschland.

Samstag, 26. Februar: Der Nachfolger von zu Guttenbergs Doktorvater an der Universität Bayreuth, der Staatsrechtler Oliver Lepsius, bezeichnet den Minister in einem Interview mit dem Bayerischen Rundfunk als “Betrüger”. Der Mitschnitt wird auf Youtube und anderen Videoplattformen verbreitet und weit über hunderttausendmal angeklickt. Drei Tage später tritt Karl-Theodor zu Guttenberg von allen politischen Ämtern zurück.

Eine selektive Chronologie: Natürlich hat nicht “das Netz” den Minister zu Fall gebracht, die “klassischen” Medien, darunter konservative Blätter wie die “FAZ” oder die “Welt” haben auch ihren Anteil – mit eigenen Recherchen, mit ebenso eindeutigen wie beharrlichen Kommentaren. Und doch: Was die Netz-Crowd bei “Guttenplag” innerhalb von zwei, drei Tagen zusammengetragen hat, dafür hätte früher eine Einzelperson oder auch ein Team von Journalisten Wochen oder Monate gebraucht – vorausgesetzt, es wäre überhaupt irgendwie finanziert worden.

Das Internet und die Guttenberg-Affäre – ein Modellfall für eine “urdemokratische” barrierefreie Mitgestaltung der realen Welt vom heimischen Rechner aus? Erstens: Eine Google-Suche ist noch lange keine genuin politische Willensäußerung. Zweitens: Die Mitmach- und Begeisterungsbereitschaft ist auch im Netz begrenzt. Große Zahlen (wie bei den Facebook-“Freunden” von Guttenberg …) heißen nicht viel; die Crowd ist flüchtig und keine verlässlich einzukalkulierende Größe.

Apropos verlässlich und kalkulierbar: Direkte Volksentscheide haben die Verfassungsväter der Bundesrepublik ja einst mit Blick auf die deutsche Geschichte weitgehend ausgeklammert – ob das Misstrauen gegenüber der “verführbaren” Masse berechtigt war oder ist, darüber kann man trefflich streiten. Manch einer befürchtet nun, dass in einer digitalen Demokratie die unreflektierte Stimmabgabe aus dem Impuls heraus sogar wahrscheinlicher würde: Einen Mausklick macht man halt deutlich einfacher, als sich erst einmal zum Wahllokal zu bemühen.

Wie dem auch sei: Abstimmen im Netz ist die eine Sache, das konstruktive Erarbeiten von politischen Ideen eine ganz andere, davon kann die als digitaler Bettvorleger gelandete Piratenpartei ein Liedlein singen. Und das Liquid-Democracy-Projekt bei der Enquete-Kommission “Internet und digitale Gesellschaft” backt gerade einmal die ersten ganz kleinen Brötchen. Aber warten wir einmal ab: Vor 20 Jahren wäre die Sache mit der Doktorarbeit wahrscheinlich im Sande verlaufen. Und voraussichtlich haben wir nicht erst in 20 Jahren neue Formen der politischen Willensbildung im Netz – wie die aussehen werden, das ist allerdings noch reichlich wolkig.

(Dieser Text erschien als “Netz.Blick” in der Zeitschrift “Digital”, Ausgabe Mai/Juni 2011.)