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#systemkrank – Twitter-Trend lockt Trittbrettfahrer und Trolle

Ein richtiger Meme wird #systemkrank nun wohl doch nicht. Neue Tweets träufeln nur noch im Minuten-Abstand ein – dafür hat sich mittlerweile das thematische Spektrum von persönlicher Miss-Befindlichkeit über Maskulismus, von Sponsorensuche bis hin zum plumpen Clickbait so weit aufgefächert, dass #systemkrank nun für alles steht. Beziehungsweise für nichts mehr. Aber egal – für die „Erfinderin“ und ihr Anliegen hat es wieder einmal gereicht, um die Filterblase Twitter nach außen hin zu durchstoßen.

Insofern ist Christine Finke auf jeden Fall eine Twitter-Versteherin, während wir von der Lügenpresse 🙂 ja immerhin noch ganz gut als Blasen-Durchstoß-Helfer taugen. Es ist also nicht nur so, dass man seine Meinung wohl doch noch sagen darf – wenn man das pointiert macht, kommt man sogar ins Radio oder Fernsehen. Das einmal als Ermutigung an die Systemkranken. Alle – auch etwas populär oder pauschal daherkommende – „System“-Kritik gleich als „rechts“ einzuordnen, ist wiederum ein Filterblasen-Phänomen.

Klar gibt „die da oben“ oder „das System“ gar nicht, wir leben ja schließlich in einer repräsentativen Demokratie – sagt Andreas Zick von der Universität Bielefeld im DRadio- Wissen-Interview. Das mit dem möglichen Engagement und der Teilhabe ist allerdings zunächst mal eine theoretische Angelegenheit. Drüber reden (z.B. als Angehöriger der Medien 🙂 ) ist ja schon viel leichter als selbst politisch aktiv werden. Nur drüber twittern oder den #Aufschrei gleich dem Bot überlassen, bringt praktisch gar nix. Ausnahmen bestätigen die Regel.

„Ein Hashtag bietet Identität“ · DRadio Wissen

DRadio Wissen – Hielscher oder Haase vom 16.11.2016

Facebook startet Image-Werbekampagne in Deutschland

Dass bei Werbung und PR ein klitzekleiner Unterschied zwischen Dichtung und Wahrheit bestehen könnte, das preisen verständige Bürgerinnen und Bürger ein. So ist Mariacron gewiss ein „großer deutscher Weinbrand“, die Hoch-Zeit eines ähnlichen Produktes („erst mal einen Dujardin“) ist auch schon ein Weilchen her, aber ein richtiger Cognac ist möglicherweise dann doch noch etwas anderes… Wie dem auch sei. Bei der aktuellen Facebook-Kampagne treten hippe Testimonials ins Bild, die erstmal gewisse Bedenken gegenüber dem Datenkraken Nr. 1 artikulieren.

Aber diese Bedenken lassen sich natürlich ganz leicht ausräumen. Mal was peinliches gepostet? Einfach löschen. Sorgen wegen nicht an die ganze Welt gerichteter Messages oder Bilder? Kein Problem, einfach die Empfänger etwas feiner einstellen in den Facebook-Optionen. Dass das jetzt nur im „sichtbaren“ Ergebnis etwas ändert, nicht aber in Bezug auf die von Facebook gespeicherten, ausgewerteten und an Werbetreibende weitergegebenen Persönlichkeitsprofile – geschenkt. Wenn irgendjemand von den „Freunden“ einen „peinlichen“ Post weiterverbreitet hat vor der „Lösch“aktion, dann bleibt das „wollte ich eigentlich nie, nie, nie teilen“ trotzdem im Netz, trotz aller treuherzigen Blicke in die Kamera.

Die Testimonials; jung, hip und gar nicht Oettinger, die sind jedenfalls überzeugt. Oder wie? Es ist halt eine Werbekampagne, das Ganze. 🙂

Einmal löschen – alles weg? · DRadio Wissen

DRadio Wissen – Hielscher oder Haase vom 31.10.2016 (Moderation: Diane Hielscher)

Die Rückkehr der Avatare: Facebook zeigt Social-Virtual-Reality

Eigentlich fällt mir spontan kein größerer Flop in der IT- und Netz-Geschichte ein als „Second Life“. Das war jene flache, bunte Welt, in der man sein digitales Abbild, einen Avatar durch die Gegend latschen lassen konnte. Und selbstverständlich konnte dieser Avatar vielleicht auch ein bisschen schicker, jünger oder reicher sein als man selbst in Wirklichkeit. (Noch mal zur Erinnerung – da konnte man sich ja virtuelles Eigentum kaufen in Second Life – gegen echte, reale Kohle, versteht sich.) Damals, 2003, redeten allen ernstes irgendwelche Netz-Berater völlig verdatterten Dax-Vorständen ein, ihre Unternehmen müssten unbedingt in dieser Parallelwelt präsent sein, mit Filialen, um dort Beratungsgespräche durchzuführen oder vielleicht sogar richtige Geschäfte abzuwickeln.

Absolut irre. Das einzige, was die Leute da letztlich interessiert hat in Second Life, war natürlich Sex. Andere Avatare anquatschen (hinter der vollbusigen Blondine steckte natürlich in Wirklichkeit auch nur ein anderer triebgestauter pickeliger Nerd…) und vielleicht kopulieren, digital. Nur war das eben rein optisch so ultra-weit entfernt von den mittlerweile im Netz verfügbaren Alternativ-„Erotik“angeboten, dass da nur sehr phantasie- und imaginationsbegabte Leute auf ihre Kosten kommen konnten. (Es soll allerdings nach wie vor Spuren von Leben geben im ausgehypten Alt-Universum 🙂 …)

Jetzt sind wir ein paar Jährchen weiter, es gibt 3D und Virtual-Reality-Brillen. Im Film- und TV-Bereich ist 3D eigentlich schon wieder gefloppt, und wieder bzw. weiterhin ist das plausibelste inhaltliche Angebot: Sex. Das ist aber bekanntlich etwas, was es nicht gibt im Universum Facebook. Insofern ist die Frage noch nicht beantwortet, was eigentlich die Avatare den lieben langen Tag über machen sollen in Mark Zuckerbergs VR-Reich, außer im Idle-Modus hin-und-her zu schwanken. Interessante Orte soll man besuchen in 3D, zusammen mit seinen Freunden. Karten spielen. Laserschwertduelle ausfechten. Werbung angucken. 🙂

Irgendwann wird das mit den Avataren und dem kompletten Ausklinken aus der Realität mal kommen, davon bin ich auch überzeugt. Momentan sieht es noch ganz stark nach Deja-Vu aus.

DRadio Wissen – Hielscher oder Haase vom 07.10.2016 (Moderation: Diane Hielscher)

Facebook launcht Marketplace. Zum zweiten Mal.

Was schon einmal gefloppt hat im Netz, muss nicht zwangsläufig hoffnungslos sein. Vielleicht war einfach 2007 die Zeit noch nicht reif. Jetzt ist zum Beispiel die praktisch flächendeckende Versorgung mit Smartphones beim kaufkräftigen Teil der Weltbevölkerung (es soll allerdings immer noch ein paar Technik-Verweigerer(innen) mit durchaus guten Renten geben 🙂 …) ein Argument, warum der zweite „Marketplace“-Launch von Facebook diesmal mit einem Akzent auf lokalen Privatangeboten erfolgreich sein könnte. Letztlich geht es allen Inserenten und allen Interessenten darum, dass auf einer Käufer-Verkäufer-Plattform möglichst viele Leute unterwegs sind.

Dass auch bei Marketplace 2.0 einige Spaßvögel sofort mit Facebook-inkompatiblem Schmutz und Schund hineingrätschen, war vorhersehbar. Da wird Mark Zuckerberg wohl sein Aufsichtspersonal wieder mal etwas aufstocken müssen.

Facebook macht auf Ebay · DRadio Wissen

DRadio Wissen – Hielscher oder Haase von 04.10.2016 (Moderation: Diane Hielscher)

Israel und Facebook einigen sich auf Vorgehen gegen „aufhetzerische“ Posts

Letzte Woche stand Facebook ja im Kreuzfeuer der Kritik – die norwegische Zeitung Aftenposten hatte das berühmte „Napalm Girl“-Foto aus dem Vietnamkrieg gepostet, Facebook hatte das Bild und den zugehörigen Artikel gelöscht, nach einem Proteststurm und massiven Vorwürfen, das Social Network würde Zensur ausüben, ruderte Facebook zurück.

Gestern nun  haben sich Facebook und die israelische Regierung darauf verständigt, verstärkt gegen „aufhetzerische“ Inhalte vorzugehen. Und auch hier gibt es wieder sehr kritische Reaktion, auch hier wird wieder von Zensur gesprochen.

Die Kritik kommt hier ganz massiv etwa von der Website „The Intercept“ und Glenn Greenwald: die vereinbarte Zusammenarbeit richte sich „needless to say“ gegen Araber, Moslems und Palestinenser, die gegen die israelische Besatzung opponieren würden. Greenwald bezeichnet die an den Gesprächen beteiligten israelischen Minister als Hardliner, erwähnt, dass auf Facebook auch Israelis gegen Palestinenser hetzen würden und stellt Facebook dann am Ende des Artikels eine Liste von Fragen: Ob man eben auch auf palestinensische Beschwerden gleichermaßen reagieren würde, ob z.B. die Bemerkung, die israelische Besatzung sei illegal und man solle Widerstand dagegen leisten, schon „aufhetzerisch“ im Sinne der Vereinbarung sei ?

Greenwalds Position und Parteinahme überrascht denn doch etwas – natürlich mögen manche seiner Argumente oder Befürchtungen zutreffen, natürlich ist die derzeitige israelische Regierung wieder einmal auf opportunistisch-machterhaltendem Tuchfühlungs-Kurs mit radikal-religiösen Irren. Aber Fakt ist natürlich auch: selbstverständlich nutzen Feinde Israels die Social Networks als Plattform für Hetze und vielleicht auch für die konkrete Vorbereitung von Anschlägen – auch bei uns hier in Deutschland verlangt der Innen- oder Justizminister mehr Initiative von Facebook gegen hetzerische Posts.

Die Sache ist halt knifflich. Ohne jetzt übertriebenes Mitleid für einen Multimilliardär und Privacy-Monetarisierer zu haben; Facebook eiert schon ziemlich herum, um es allen geschäftswahrend recht zu machen. Das eigentliche Problem liegt aber natürlich auf unserer, auf der Gegenseite: Wieso erlauben wir einem US-amerikanischen Privatunternehmen, eine angeblich alternativlose Marktmacht einzunehmen, wieso gestehen wir Facebook zu, über Meinungs- und Pressefreiheit zu entscheiden?

DRadio Wissen – Hielscher oder Haase vom 13.9.2016 (Moderation: Till Haase)

Tod, Trauer und Twitter – wirklich ein gesellschaftlicher Wandel?

Mit dem Online-Trauern ist es so ähnlich wie mit dem Online-Demonstrieren: Zwischen einem halbsekündigem Mausklick und einem den-Arsch-aus-dem-Sessel-bekommen, irgendwo hinlatschen und da etwas von sich geben ist noch mal ein gewaltiger Unterschied. Insofern kann man dann wahrscheinlich auch das politische oder gesellschaftliche oder private Gewicht einer Online-Stellungnahme entsprechend zum Aufwand nachkalibrieren. 🙂

Die sozialen Netzwerke verändern unsere Sicht auf den Tod, sagt eine aktuelle Studie von zwei US-Wissenschaftlerinnen. Das mag sein – wenn man die Nachkalibrierung einbezieht. Ohnehin ist ja immer die Frage, um was man eigentlich trauert – um einen anderen Menschen, der nun nicht mehr da ist? Oder um die eigene Vergänglichkeit? Um die allgemeine Vergänglichkeit und Nichtigkeit des menschlichen Daseins? Des Universums? Für solche Überlegungen ist das Netz der goldrichtige Platz. Am besten kurzgefasst in 140 Zeichen.

Tod? Dislike! · DRadio Wissen

DRadio Wissen – Hielscher oder Haase vom 22.08.2016 (Moderation: Thilo Jahn)

Digitales Tagebuch: Neues Projekt von Facebook-Entwicklern

Da muss es wohl irgendwie Kohle zu verdienen geben. Aber ich bin ja wie immer innovationsfeindlich und old-fashioned und sich-selbst-verkaufsmäßig skeptisch. Auch wenn da irgendwelche Leute, die eigentlich ausgesorgt haben müssten, spektakulär auf einen fahrenden Zug aufspringen. Sagen wir mal also mal so: Garbage in – Garbage out. Langweiliges, subalternes Leben in – langweiliger, öder Scheiß out. 🙂

Wer soll den Quatsch eigentlich lesen oder nachvollziehen, wenn ein Typ (Frauen machen das glaube ich tendenziell weniger; also in der Gesamtperformance, nicht in getuneten partiellen Einblicken wie einem Instagram-Profil…) sein tägliches „zur-Arbeit-fahren und dann wieder-zurück-fahren“ und „die Zichten-holen-am-Kiosk“ und die „Pokemons-jagen-im-Park“ und „die Exfreundin-treffen“ (die einem noch mal sagt, wie bescheuert man ist…) , der also das alles automatisch digital registriert und aufzeichnet und zu einem „digitalen Tagebuch“ werden lässt, das zu editieren und zu kuratieren er aber selbst wiederum schon zu faul ist ?

Kein Mensch guckt da rein, zu vererben hat so ein armer Wicht ja meist auch nix. Kein Mensch will mit so einem Biografie-Outsourcer und -Automatisierer reden; nicht zu Lebzeiten, und schon gar nicht nach dem Ableben. Aber das ist natürlich nur meine unmaßgebliche Meinung. Wer das anders sieht, wer auf ein digitales Nachleben hofft oder auf ein Chatbot-Gespräch mit seinen Erben, der darf gern in den Privacy-Albtraum einsteigen.  Und eine Monatsgebühr abdrücken. Oder Werbung genießen. Oder seinen Erben das pseudo-virtuelle Vergnügen vererben.

Digitales Tagebuch: Neues Projekt von Facebook-Entwicklern · DRadio Wissen

DRadio Wissen – Hielscher oder Haase vom 11.08.2016 (Moderation: Till Haase)

P.S. – die Namenswahl verstehe ich auch nicht so ganz – es gibt doch schon eine Fabric-App.

Zwischen Markenrechten und Political Correctness: Olympia-Emoji bei WhatsApp und Twitter

In Rio laufen die Olympischen Spiele – und auf Twitter machen automatisch hinzugefügte Emoji die Timeline bunter und verwirrender. Die olympischen Ringe sucht man aber vergebens – anders als bei WhatsApp.

Rio 2016: Olympia-Emoji bei WhatsApp und Twitter – SPIEGEL ONLINE

Amok in München, die Medien und die Social Media

Es ist halt so ein gewisses Ritual bei mir, dass ich um 20 Uhr das Fernsehen einschalte, um die Tagesschau zu gucken (und dann ganz schnell auch wieder auszumachen, bevor eine launig-weichgespülte Intromusik signalisiert, dass nun etwas grässliches wie „Um Himmels Willen“ folgt…) – ich ziehe nach wie vor den vielleicht etwas steifen Gestus im Ersten der pseudo-lockeren Nachrichten“präsentation“ bei der Konkurrenz vor. Aber ob ich da wirklich beim richtigen Kanal bin, daran hatte ich gestern erhebliche Zweifel.

Ich mache also völlig unvorbereitet oder uninformiert die Glotze an, zuerst läuft noch ein paar Sekunden Werbung (Bauhaus, wenns gut werden muss, soweit ich mich erinnere…) – der Eingangstrailer läuft, Jens Riewa sagt sein Sprüchlein auf („Meine Damen und Herren, ich begrüße Sie zur Tagesschau“) – und dann geht es ohne jegliche Erklärung weiter: (Ein gekürzter Mitschnitt findet sich hier.) „Aktuelle Informationen zur Lage in München jetzt von meinem Kollegen Eckhart Querner. Herr Querner, wie erleben Sie die Lage in München zur Zeit?“ Hinter Jens Riewa sieht man einen Herrn mit Mikrofon, an dem aber ein anderer Herr noch hektisch herumzupft, dann verschwindet die Einblendung.

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Oha, da gibt es also irgendeine Lage in München – und das kann in diesen Zeiten und unter diesen Umständen ja auch nichts Gutes bedeuten. Herr Riewa schaut betreten drein und lauscht der Regieanweisung in seinem Ohrstecker – dann kommt das Bild im Hintergrund wieder, auf dem wiederum ein emsiger Technik-Kollege um den Reporter herumwieselt und zupft und verkabelt. Ganz offenbar ist Herr Querner noch nicht soweit, was Jens Riewa immer noch sehr souverän entschuldigt, während das Bild wieder weggenommen wird, jetzt erfahren wir immerhin auch, was überhaupt los ist, ein Anschlag nämlich. Nach diesen zusammenfassenden Informationen der nächste Versuch, und erneut die Frage (weil sie nun ja einmal so gut ist…) an Herrn Querner, wie er denn die Lage erlebt.

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Herr Querner schaut sich aber gerade um, guckt dann wieder in bzw. neben die Kamera, im Wartemodus halt und definitiv nicht im Bewusstsein, schon wieder mal auf Sendung zu sein. Neuer Versuch aus der Regie – Telefonschalte zum Kollegen Richard Gutjahr (der offenbar momentan bei allen Anschlägen in Europa als Augenzeuge vor Ort ist, das würde ein KI-Algorithmus für höchst verdächtig halten…) Herr Gutjahr kann aber auch im Moment nichts berichten, weil die Leitung offenbar noch nicht steht. Der arme Herr Riewa fragt noch einmal nach – immer noch mit bewundernswerter Gesichtsbeherrschung – irgendein falscher Ton wird reingeblendet, Herr Riewa bekommt neue Ansagen der Regie aufs Ohr, bittet noch mal um Entschuldigung, und dann, bei Minute 2’35, kommt die erste erlösende Rückmeldung von Herrn Gutjahr, wenn auch zunächst nicht verständlich, der „gerade noch rechtzeitig“ in das Krisengebiet hereingekommen ist, nachdem er im Auto in der Nähe unterwegs, von Schüssen und womöglich Toten erfahren hat.

Wer wie ich bei Rundfunk oder TV arbeitet, der kennt solche Albtraum-Situationen mit zusammengebrochenen Leitungen oder kaputten Sendepulten (oder eben mit Techniker- oder Regie-Fehlern, ich selbst habe da auch schon das eine oder andere Mal etwas verbockt) – wobei das Desaster in diesem Fall schon sensationelle Ausmaße hatte. Geschenkt. Aber das wirkliche Grauen, das ging ja nun erst richtig los. Nach dem ersten Telefonat mit Herrn Gutjahr ist Herr Querner nun zum vierten Male auf Sendung, die Frage wiederum „Herr Querner, wie erleben Sie die Lage dort?“ – und oh, Wunder, nach einer Schrecksekunde (im Gesicht von Herrn Riewa laufen ganze Romane ab…) beginnt Herr Querner auch zu reden, Er ist einen halben Kilometer vom Tatort entfernt und referiert das, was er vom Hörensagen weiß und von der Ansicht eines Handyvideos. Dann gibt er „mit diesen Informationen zurück an Jens Riewa.“

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Aber so einfach lässt der ihn nicht davonkommen – eine Nachfrage. Herr Querner steht wieder im Stand-By-Modus und sagt nix. Möglicherweise ahnt er schreckliches. Jetzt kommen nämlich alle mögliche Fragen, zu denen Herr Querner eigentlich absolut nichts sagen kann, jedenfalls nicht aufgrund der Tatsache, dass er da steht, wo er steht. Zwischendurch werden Bilder eingeblendet, wo Polizisten im Laufschritt mit gezückter Waffe Personen einen Bürgersteig entlang eskortieren – vorbei an den Kamerateams, die das in aller Seelenruhe und ohne jegliches Zeichen einer akuten Gefahr filmen und dabei wiederum gefilmt werden.

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Herr Querner schildert, was wir gleichzeitig hinter ihm ohnehin sehen und hören. Er beschreibt die Situation als immer noch extrem angespannt, während hinter ihm Jugendliche hin und her durchs Bild latschen und wiederum das Kamerateam mit dem Smartphone filmen.

Zwischendurch kommt wieder Herr Gutjahr zu Wort, dann auch ein Experte, und die Fachsimpelei geht los, war es ein Terroranschlag oder ein Amoklauf, oder irgendwas mit „fließendem Übergang“? Und immer alle Einschätzungen mit den mittlerweile von allen Akteuren verinnerlichten Einschränkungen – „möglicherweise, vermutlich, wenn das so stimmen sollte“ – alles journalistisch korrekt. Fragt sich nur, warum man dann überhaupt „live“ dran bleibt am Ereignis und wie lange – wenn man offenbar einerseits keine neuen belastbaren Information mehr hat und über weniger belastbare nicht reden möchte.

Die gab es nämlich sehr früh – aus den Social Media. Zum einen kursierten spätestens gegen 18.18 Uhr Aufnahmen (von dem Zeitpunkt findet sich ein Screenshot des Facebook-Accounts der Münchener Polizei, wo das Video gemeldet wurde), die ganz offenbar den (oder einen) Täter auf dem Dach des Parkhauses zeigen, und das andere, schon von Herrn Querner referierte Video, das die ganz offenbar gleiche Person schießend vor der McDonalds-Filiale zeigt. Das dies nun eigentlich die „möglicherweise authentischen“ Quellen sind, über die man so schnell wie möglich und so fachkundig wie möglich reden müsste, das sieht man im Ersten anscheinend nicht so, oder es fehlten die personellen Kapazitäten.

In den Social Media kursiert sehr früh noch ein anderer Hinweis – dass nämlich über ein gehacktes oder gefaketes Facebook-Profil einer jungen Frau offenbar Mitteilungen verschickt worden waren; mit dem Ziel, junge Leute zu dem McDonalds-Restaurant zu locken. Und in dem später von Facebook gesperrten Profil identifiziert ein anderer User dann auch den Täter mit Vor- und Nachnamen. Jetzt, nach der Pressekonferenz der Münchner Polizei stellt sich heraus – das waren in diesem Fall die relevanten Informationen; der merkwürdige Gang des Täters, sein „Dialog“ auf dem Dach, das Anlocken von jungen Menschen, vielleicht sogar gezielt von solchen mit Migrationshintergrund. Auch wenn es zusätzlich die üblichen Fakes gab.

Und das Fazit? Es wäre vielleicht noch einmal an der Zeit, in den Redaktionen sehr gründlich darüber nachzudenken, wie man solche „Akutsituationen“ eigentlich abdecken will und kann. Das Tempo herausnehmen und sich auf bestätigte Informationen der Polizei verlassen wäre die eine Möglichkeit – da verliert man allerdings seine Kundschaft im Zweifelsfall an weniger zimperliche Konkurrenz. Ein rund um die Uhr verfügbares und auch noch sehr kompetent besetztes Team, das Onlinequellen sichtet und mit forensischen Methoden verifiziert, wäre eine andere Option – angesichts der finanziellen Realitäten in öffentlich-rechtlichen wie in privaten Medien eine ziemlich unrealistische.

Kleiner, großer Haken überdies: Eine forensisch abgesicherte und sachkundig eingeordnete „Live-Berichterstattung“ mit Netz-Quellen wäre zwar journalistisch wertvoll, würde aber u.U. der Polizei in die akute Arbeit hineinpfuschen – die sich wiederum fragen lassen muss, ob sie beim Monitoring und der Verifizierung von Net-Input schon auf der Höhe ist. Was ich selbst jedoch eigentlich nicht mehr sehen möchte: Vor-Ort-Live-Reporter, die mit zuversichtlichem oder verzweifeltem Gesicht über Dinge spekulieren, über die sie nichts wissen. Oder verpixelte Einspieler aus dem Netz, von denen man sich „journalistically correct“ distanziert, anstatt den Versuch einer Überprüfung und Bewertung zu machen.

iAWACS: Hacker versucht Krisen-Vorhersage am heimischen PC

Als vor ein paar Tagen in den USA ein Schwarzer bei einer Polizeiaktion erschossen wurde, als danach die Proteste starteten, die Demonstration in Dallas, dann dort die Schüsse auf die Polizei – da zeigte sich wieder einmal, dass eigentlich mittlerweile im Netz – über Twitter oder Facebook; über die Live-Postings von Bildern und Videoclips – eine Live-Dauerschalte läuft. Und zwar zu allen Orten und Themen gleichzeitig, von belanglosem bis hin zum dramatischen. Da kommt natürlich immer wieder die Idee auf den Schirm, ob man nicht aus diesem Informationsdauerfeuer im Netz ablesen kann, was gerade passiert – oder besser noch, was gleich passieren wird. Der US-amerikanische Hacker „Jester“ hat eine Seite ins Web gestellt, die genau so etwas verspricht.

Das InternetAWACS ist allerdings momentan noch eine Beta-Version, die offenbar auch gar nicht ständig „scharfgeschaltet“ ist – das dürfte nicht zuletzt mit den Kosten zu tun haben, die ein möglichst globales Abgreifen und Auswerten von Tweets verursachen würde. So etwas kann man sich auch als Privatperson etwa in einer AWS-Instanz bei Amazon einrichten – allerdings nicht in einer der Billigversionen. Die übrigen Komponenten von iAWACS sind in der jetzigen Form nicht viel mehr als Gimmicks – das Flugbewegungs-Overlay macht optisch etwas her, dürfte aber in den allermeisten Fällen wenig Informationsgewinn bringen, die Watson-KI ist nicht integriert, sondern kann nur gesondert aufgerufen werden.

Man darf aber getrost davon ausgehen, dass bei NSA und Konsorten die „Profiversionen“ eines Netz-Frühwarnsystems im Einsatz sind – nur ob sie da schon irgendwelche sinnvollen Ergebnisse bringen, darf bislang bezweifelt werden. Und selbstverständlich – auch wir Journalisten hätten gern so ein Tool. Im Grunde gilt aber unser methodisches Dilemma dann auch wieder für die Schlapphut-Branche (und auch für „Cyber-Vigilanten“ 🙂 ): Eine Netzquelle, die sich nicht verifizieren lässt, ist in Prinzip völlig wertlos. Oder schlimmer; Bullshit, Fake und Desinformation.

Terrorgefahr: Hacker versucht Krisen-Vorhersage am heimischen PC – SPIEGEL ONLINE

Spiegel Online – Netzwelt vom 12.07.2016

DRadio Wissen – Hielscher oder Haase vom 11.07.2016 (Moderation: Till Haase)