Die Investigativ-Plattform Bellingcat.com hat sich schon diverse Male mit den Vorgängen im Osten der Ukraine beschäftigt – zum Beispiel mit der Frage, ob russische Truppen im Land sind, vor allem aber auch mit dem immer noch ungeklärten Rätsel, wer eigentlich für den Abschuss von Flug MH17 verantwortlich ist. In der Analyse vom 31.5. ging es um eine Pressekonferenz, die das russische Verteidigungsministerium im Juli 2014 abgehalten hatte. Damals wurden Satellitenaufnahmen präsentiert, die Indizien oder Beweise dafür liefern sollten, dass ukrainische BUK-Flugabwehrsysteme beim Abschuss vor Ort waren.
Das Ergebnis der Bellingcat-Analyse fällt eindeutig aus: Die bei der PK vorgeführten Fotos seien manipuliert bzw. gefälscht gewesen. Genauso griff das auch die internationale Presse auf (zumindest die westliche 🙂 ) – die Website gilt als eine zuverlässige und tiefschürfende Quelle.
Im Netz gab es allerdings schon einen Tag später Zweifel an der Stichhaltigkeit der Untersuchung – und zwar ausgerechnet vom Programmierer der Software, die Bellingcat für die forensische Fotoanalyse nutzt. Am 3.6. fasste der Medienjournalist Stefan Niggemeier die wesentlichen Kritikpunkte in seinem Blog zusammen:
a) die Aussage von Bellingcat, die Fotos seien nachträglich mit Photoshop bearbeitet, würde nichts beweisen, das sei etwa schon zum Beschneiden und Betexten des Fotos normal.
b) Bellingcat habe bei der eigentlichen forensischen Analyse der Fotos falsche Schlüsse gezogen.
c) Die Datumsangaben auf den Google Earth-Bildern, die Bellingcat als Referenz verwendet seien unzuverlässig und also nicht beweiskräftig.
Inzwischen war auch Spiegel Online den Kritikpunkten auf der Spur, veröffentlichte ebenfalls am 3.6. ein Interview mit dem Hamburger Foto-Forensiker Jens Kriese und fügte dem ursprünglichen Artikel über die Bellingcat-Analyse ein „Update“ hinzu, das über die aufgetauchte Kritik informiert.
So weit, so (journalistisch) vorbildlich. Ich bin allerdings ein wenig im Zweifel, ob die Kollegen und der von SPON befragte Experte das Bellingcat-PDF wirklich komplett und aufmerksam gelesen haben – und nicht nur die Zusammenfassungs-Passagen. Da steht zwar tatsächlich mehrmals der Satz „das Foto wurde mit Adobe Photoshop digital modifiziert“ – das ist aber keineswegs in dem Sinne zu verstehen, als hätte Bellingcat hier „modifiziert“ und „manipuliert“ schon gleichgesetzt. Sollte die folgende Passage im Interview mit Jens Kriese nicht durch eine redaktionelle Kürzung zustandegekommen sein, ist sie regelrecht skandalös:
SPIEGEL ONLINE: Bellingcat kommt zu dem Schluss, dass sie (Anm.: die Satellitenaufnahme) mit Photoshop bearbeitet wurde.
Kriese: Eine Fehlinterpretation. Sie sagen: Die Metadaten zeigen, dass die Bilder mit Photoshop bearbeitet wurden. Daraus folge, dass es wohl die Wolken waren, die eingefügt wurden, um etwas zu verschleiern. In Wahrheit beweist der Hinweis auf Photoshop in den Metadaten nichts. Mit irgendeinem Programm mussten die Russen das Satellitenbild ja für die Präsentation bearbeiten.
In Wirklichkeit hat Bellingcat die von Kriese hier behauptete naive Schlussfolgerung überhaupt nicht gezogen. Die Mitarbeiter der Plattform sind zwar Laien, wie Kriese feststellt, sicher aber keine Vollidioten. Im PDF wird einfach die Photoshop-Nutzung als schlichte forensische Tatsache aus den jeweiligen Metadaten der unter die Lupe genommenen Bilder referiert – natürlich ist das auch für Bellingcat zunächst etwas völlig wertfreies und normales; auf Seite 30 in der deutschen Version wird im Gegenteil z.B. als Besonderheit erwähnt, dass das Bild „5-analytics“ keine Angaben zum Bildverarbeitungsprogramm in den Metadaten hat (obwohl auch dieses Bild selbstverständlich bearbeitet ist…).
Der nächste Kritikpunkt ist hingegen stichhaltiger – auch wenn Bellingcat die Ergebnisse der forensischen Analysesoftware vielleicht etwas weniger ahnungslos interpretiert als Stefan Niggemeier zu Beginn seines Artikels andeutet (Bellingcat unterscheidet nämlich zwischen „plausiblen“ Veränderungen in der Bildstruktur und „unplausiblen“ – das haben z.B. manche Kollegen in der Berichterstattung gar nicht mitbekommen und referieren über „plausible“ Veränderungen, als hielte Bellingcat die für Fälschungsindizien…). Das Problem ist aber grundsätzlicher Natur: Die von FotoForensic visualisierte ELA-Analyse erlaubt eben als statistisches Verfahren überhaupt keine derartig eindeutigen Aussagen, wie sie Bellingcat zumindest in den zugespitzten Zusammenfassungen trifft (in der Einzelanalyse ist ja immerhin noch oft von „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ etc. die Rede) – das sagt der FotoForensic-Programmierer Neil Krawetz; das bestätigt auch Jakob Hasse vom Forensik-Unternehmen dence GmbH:
Bei dieser Analysemethode ist die Interpretation recht schwierig, bzw. das visuelle Bild, das man erhält, kann auf verschiedene Weise interpretiert werden. Und besonders bei schon nachbearbeitetem Bildmaterial muss man da sehr vorsichtig sein, was die Aussagekraft angeht. … Man muss wissen, wie das Bild entstanden ist, was es eigentlich darstellt, wie die Analyse eigentlich arbeitet, um verstehen zu können, welche Schlüsse man daraus ziehen kann.
Hasse sieht auch innerhalb des Berichtes Inkonsistenzen – auf jeden Fall hätte Bellingcat auf den Unsicherheitsfaktor bei der Interpretation hinweisen müssen.
Punkt c) – die Datierung mittels Google Earth: Stefan Niggemeier hat grundsätzlich recht, die Datumsangaben bei Google Earth sind nicht so exakt zu nehmen, wie es auf den ersten Blick aussieht. Vollkommen willkürlich sind sie aber auch nicht, sondern geben z.B. bei aus mehreren Einzelstücken zusammenmontierten Karten die Spannbreite von frühestem und spätestem Aufnahmezeitpunkt an. In der Bellingcat-Analyse wird aber nicht nur die Datierung, sondern ein weiterer Faktor, nämlich die jahreszeitliche Vegetation (die mit der Datierung übereinstimmt) zur Ermittlung der chronologischen Reihenfolge genutzt – das ist m.E. schon recht plausibel. Aber trotzdem, das betont auch Jakob Hasse – eine wirklich „verlässliche Referenz“ mit Beweischarakter wären nur die Originalfotos z.B. der Militärs – nur werden die nie veröffentlicht, um dem „Gegner“ nicht die eigenen Kapazitäten zu verraten. Auch hier ist also richtig: Bellingcat hätte diese prinzipielle Problematik deutlicher herausstellen sollen.
Bei aller berechtigten Kritik: Dass Bellingcat sich mit der Analyse grundsätzlich unglaubwürdig gemacht hat, sehe ich nicht so. Immerhin versucht das Team, eine Recherchearbeit zu leisten, die leider etwa im öffentlich-rechtlichen Rundfunk und in der deutschen Presse so gut wie nie stattfindet – weil ja alles schnell und billig gehen muss. Da bin ich übrigens wieder bei Stefan Niggemeier und dessen Medienschelte angelangt: Offenbar liest man eben eher eine pointierte Zusammenfassung als einen kompletten, komplizierten Text – und dann wird der Artikel „herausgehauen“. Wer aber die Bellingcat-Truppe für eine Laienspielschar hält, der braucht ja als Sender oder als Medienhaus „bloß“ ein bisschen Kohle in die Hand zu nehmen und die Sache dann selbst besser machen. 🙂
Zum Schluss noch mal Jakob Hasse:
Ich finde es prinzipiell einen guten Ansatz, dass man sich überlegt, kann man technische Verfahren verwenden, um öffentliches Material aus öffentlichen Quellen zu untersuchen. Es ist auch ein guter Ansatz, Tools bereitzustellen, um das erstmal zu ermöglichen. Man muss halt aufpassen, die Interpretation ist halt für so ein schwieriges Material nicht immer einfach. Da hilft vielleicht, wenn man noch einmal den Forensiker anruft, der dann noch einmal versucht zu erklären, wo die Herausforderung liegt in der Einschätzung des Bildes.
DradioWissen – Schaum oder Haase vom 4.6.2015
P.S. Ich habe in der Live-Sendung den Namen meines Gesprächspartners Jakob Hasse von der dence GmbH mehrmals und nachhaltig „verhunzt“ – dafür hier ein herzliches „Sorry“!
P.S. 2 (5.6.2015) – Bellingcat hat mittlerweile auf einen der Kritikpunkte reagiert – auch in der Datierungsfrage der Google-Earth-Bilder sind die Mitarbeiter der Plattform keineswegs völlig naiv…