Missbrauchsvorwürfe: Tor trennt sich von Jacob Appelbaum

Anonyme Beschuldigungen sind wohlfeil, auch oder gerade wenn sie mit großer Öffentlichkeitswirkung ins Netz gestellt werden. Wenn der Beschuldigte allerdings einer der Personen mit dem größten Impact-Faktor im Netz oder zumindest in der „Netzaktivisten“-Szene ist und ein Teil der Vorwürfe gerade darin besteht, er habe diese Meinungs- und Unterstützermacht immer wieder für Mobbingaktionen eingesetzt, für den Diebstahl der Ideen und Entwicklungen anderer? Wenn aus dem Kreis seiner Arbeitskollegen und Arbeitgeber verlautet, so richtig überraschend kämen die Vorwürfe nicht, da seien schon lange entsprechende Gerüchte im Umlauf gewesen? Wenn eine Anzahl von Leuten – nicht anonym, sondern ganz offen – diagnostizieren, die fragliche Person sei unverkennbar „persönlich schwierig„?

Dann beweist das immer noch nichts, gibt aber immerhin zu denken. Die Rede ist von Jacob Appelbaum, quasi der „Star“ der Netzaktivistenszene – nach eigener Wahrnehmung und Inszenierung, so heißt es jetzt, aber auch in der Wahrnehmung der medialen Öffentlichkeit. Appelbaum soll sich nicht nur mit fremden Federn geschmückt haben, ihm werden sexuelle Übergriffe und Manipulationen vorgeworfen. Nach intensiver Diskussion hat sich das Tor-Projekt von seinem Aushängeschild getrennt – Betroffene werden aufgefordert, sich zu melden. Die sich selbst als „Opfer“ empfindenden Berichterstatter auf der Website jacobappelbaum.net wollen vor allem eines erreichen – andere vor den manipulativen Kräften und Absichten eines Mannes mit Star-Status warnen.

Nun ist halt ein angeblicher oder tatsächlicher Missbrauch, der sich „fließend“ aus einer einvernehmlichen sexuellen Beziehung heraus entwickelt, immer noch sehr viel schwieriger zu beurteilen, als wenn ein Maskierter im Park über eine Joggerin herfällt. Dass es da zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit (wenn es denn überhaupt eine objekte Wirklichkeit gibt…) Interpretationsspielraum gibt, ist klar – andererseits: „Nein“ heißt „Nein“. Oder doch vielleicht auch nicht? Man denkt an den Fall Kachelmann, man denkt vor allem natürlich an den Fall Assange. Und damit ist dann auch noch die ganz spezielle Komponente im Spiel: Sind die ganzen Vorwürfe vielleicht eine abgekartete Geheimdienst-Operation, ganz nach der Blaupause der von Edward Snowden geleakten und von Jacob Appelbaum präsentierten NSA-Strategiepapiere?

Kann theoretisch sein. Eignet sich aber andererseits wiederum möglicherweise als wohlfeile Ausrede, derer sich natürlich die „Ankläger“ auch schon bewusst sind – mit ein Grund für sie, anonym zu bleiben. Letztlich ist das aber keine haltbare Strategie. Die Auseinandersetzung sollte mit offenem Visier stattfinden. Auch wenn man einen Bericht wie den von Nick Farr liest, bleiben Fragen offen – die angebliche Chancenlosigkeit einer Konfrontation mit einer anderen Person anzuerkennen (jetzt einmal von wirklich alternativlosen Situationen abgesehen…) heißt ja auch die eigene Opferrolle annehmen. Vielleicht herrscht in den „Netzaktivisten“-Kreisen tendenziell (subjektiv nachvollziehbarerweise…) eine verzerrte (und hier selbst-destruktive…) Weltwahrnehmung, dass die Zahl der Follower allen Ernstes den Wert und die Macht einer Person bestimmt.

Star der Netzaktivisten unter Beschuss · DRadio Wissen

DRadio Wissen – Schaum oder Haase vom 06.06.2016 (Moderation: Thilo Jahn)

Nachklapp zur Sendung: Inzwischen hat Jacob Appelbaum selbst zu den Vorwürfen Stellung bezogen. Die Anschuldigungen seien komplett haltlos, auch wenn es vielleicht „unausweichlich“ Momente von unabsichtlichen Verletzungen der Gefühle anderer in professionellen oder privaten Situationen gegeben haben könnte. Dafür habe er sich entschuldigt, und er werde sich weiter entschuldigen und daran arbeiten, eine bessere Person zu werden.

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