Der „mutmaßliche Mörder“, wie es so schön und offiziell heißt nach den Richtlinien des deutschen Journalismus, ist tot. Der „mutmaßliche Mörder“ hatte allerdings die Ankündigung seiner Tat, den abartigen Mord an einem Zufallsopfer – einem Großvater auf dem Rückweg vom Osteressen; ein Schwarzer übrigens genauso wie der Täter – und anschließend das „Geständnis“ samt wirrer, narzisstischer „Erläuterungen“ dazu bei Facebook gepostet; und war daher nicht mehr so besonders mutmaßlich. Ich muss gestehen: Ich war und bin wütend, nachdem ich das Ereignis zur Kenntnis genommen habe – und den lächerlichen, erbärmlichen, feigen und verabscheuungswürdigen Gedanken des Täters:
„Mein eigenes Leben bzw. mein individuelles Wohlbefinden ist gerade so schrecklich verletzt, dass ich jetzt mal irgendeinen unbeteiligten Schwächeren killen muss.“ Dass das in den USA dadurch begünstigt wird, dass alle Leute legal oder faktisch ungehindert mit Wummen durch die Gegend laufen – geschenkt. Dass der Mörder von Cleveland im Gegensatz zu Herrn Lubitz nur einen Unschuldigen getötet hat, bevor er auf die – so denkt man unmittelbar – wesentlich bessere Idee kam, sich doch mal selbst zu töten; alleine bitte schön – geschenkt. Und hier kann man schon allmählich einmal die Wut- und Emotionsbremse ziehen:
Am besten wäre es natürlich, wenn Menschen wie Herr Lubitz und Herr Stephens nicht andere Leute und am Ende auch sich selbst killen, sondern vielleicht Hilfe suchen; wenn sie ihren eigenen Schmerz und ihre eigenen Verwundungen mit anderen besprechen. Und zwar mit konkreten Menschen, nicht mit einer amorphen, dem Verwundungs-Narzissmus Auftrieb gebenden virtuellen „Öffentlichkeit“. Dieser Gedanke ist allerdings etwas naiv heutzutage: Natürlich funktioniert das Versprechen und das Grundprinzip von Facebook und aller Sozialen Netzwerke bei einem psychisch verwundeten potentiellen Mörder oder IS-Attentäter genauso wie bei einem Katzenvideo-Poster, der auch nicht mehr alle Tassen im Schrank hat:
„Du, deine eigentlich erbärmliche und vollkommen nichtsbedeutende Existenz, deine Belanglosigkeit und Gewöhnlichkeit und deine belanglosen, feigen, erbärmlichen und perversen Taten werden irgendwie bedeutend – weil sie bei uns im Netz stehen. Und weil irgendwelche ebenso unbedeutende Leute, die Du nicht kennst und die Dich nicht kennen, deine Postings (vermeintlich…) zur Kenntnis nehmen und weiterverbreiten. Ist zwar alles nur ein Mausklick und ein großer Bedeutungs-Fake, aber immerhin. Außerdem verdienen wir dran.“
Wer das pervers und abartig findet, hat recht. Wer findet, dass wir durch die nur einen Mausklick entfernte Zur-Kenntnis-Nahme von abartigen Gewaltdarstellungen von Irren, Mördern und (angeblich…) religiös Verzückten psychisch schwerst verletzt werden, hat recht. Wer findet, dass der Ersatz normaler zwischenmenschlicher Kommunikation durch den Social-Media und Smartphone-Umweg pervers ist, dass Trennungen per WhatsApp-Message, dass Stalking und Sexting unter 13jährigen Schülern nicht in Ordnung, sondern abartig sind, hat recht.
Und trotzdem: Das ist die Welt, in der wir leben. Die Welt, die nicht zurückzudrehen sein wird. Die Welt, in der wir den ganzen Tag auf unsere Screens glotzen, und vielleicht (noch…) die Möglichkeit haben, selbst zu entscheiden, welchen Scheiß, welche Perversität wir uns da anschauen. Von daher – das Problem liegt wahrscheinlich wirklich nicht bei Facebook und schon gar nicht bei den armen Typen, die den jede Sekunde reinströmenden perversen Scheiß für Facebook sichten und (schätzungsweise nach einer Entscheidungs-Spanne von 5-10 Sekunden…) blocken oder freigeben müssen. Das Problem liegt bei uns selbst.
(Aber ok – vielleicht sollte Mark Zuckerberg den Scheiß-Job mit dem Scheiße-Erkennen mal selber machen – so zwischendurch, als kleine Kompensation für die Milliarden.)
Es gibt natürlich ein paar Stellschrauben, die auch anlässlich des aktuellen Falls mal wieder genannt werden: Ein Live-Streaming erst ab einer bestimmten Zahl von Abonnenten oder Followern zu erlauben, ist wahrscheinlich eine gute Idee. Aber der „Facebook-Mord“ selbst wurde ja gar nicht live gestreamt. Die ganze Sache „Gewaltdarstellung in Social Media“, die Verantwortung und die Filterungsmöglichkeiten der Betreiber sind am Ende gar keine moralische Abwägung, sondern – und hier kann man dann einmal getrost kotzen – eine wirtschaftliche. 🙁
Facebook: Wie umgehen mit Gewaltvideos? · DRadio Wissen
DRadio Wissen – Hielscher oder Haase vom 18.04.2017 (Moderation: Diane Hielscher)